LSG NRW L 19 B 233/08 AS ER zur Krankschreibung

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kleinchaos
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LSG NRW L 19 B 233/08 AS ER zur Krankschreibung

#1

Beitrag von kleinchaos »

Am 14.01.2009 entschied das LSG NRW unter obigem Aktenzeichen
das schwierige Problem der Krankschreibung und der Aufforderung, während dieser Zeit den medizinischen Dienst aufzusuchen. Darf man sich dagegen durch Nichterscheinen wehren, weil krank? Und wie ist der Ermessensspielraum der ARGE zu bewerten bei Sanktion wegen Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht?
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 18.11.2008 (S 15 AS 238/08 ER) geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.10.2008 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

Mit Bescheid vom 22.10.2008 entzog die Antragsgegnerin die dem Antragsteller bis zum 31.12.2008 bewilligten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), nachdem dieser der Aufforderung zur ärztlichen Untersuchung nicht nachgekommen war.

Seinen Antrag, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen diesen Bescheid anzuordnen, hat das Sozialgericht Münster mit Beschluss vom 21.11.2008 abgelehnt.

Die dagegen gerichtete Beschwerde ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Widerspruch des Antragstellers hat vorliegend nach § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt jedoch das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, weil mehr gegen als für die Rechtmässigkeit des angefochtenen Entziehungsbescheides spricht.

Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 62, 65 (SGB I) nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Zu den Mitwirkungspflichten im Sinne dieser Vorschrift zählt auch die Pflicht des Leistungsempfängers, sich auf Verlangen des Leistungsträgers ärztlich untersuchen zu lassen (§ 62 SGB I). Bei der hier nur möglichen summarischen Prüfung spricht zwar mehr dafür, dass der Antragsteller diese Pflicht verletzt und dadurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert hat, weil die von ihm vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nur zeitweise Bettlägerigkeit bescheinigen, aber nicht begründen, dass der Antragsteller nicht in der Lage ist, sich ärztlich untersuchen zu lassen, und die Antragsgegnerin hinreichende Gründe dafür vorgetragen hat, warum die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers zu überprüfen ist.

Der angefochtene Bescheid erweist sich gleichwohl als fehlerhaft, weil die Antragsgegnerin das ihr durch § 66 Abs. 1 SGB I eingeräumte Ermessen bei der Entscheidung über die Leistungsentziehung nicht gebraucht hat.

Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 "kann" der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise entziehen. Damit ist dem Leistungsträger ein Entscheidungsspielraum eingeräumt, ob und in welchem Umfang er die Leistungen entziehen will (vgl. BSG SozR 3-1200 § 66 Nr. 3 Seite 13). Weder das Hinweisschreiben der Antragsgegnerin vom 24.09.2008 noch der angefochtene Bescheid lassen erkennen, dass sich die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung dieses Ermessensspielraums bewusst war, so dass ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs gegeben ist, der zwingend die Rechtswidrigkeit des Entziehungsbescheides nach sich zieht (vgl. BSG a.a.0.).

Ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Antragstellers liegt nicht vor. Auch wenn es zutrifft, dass der Sachverhalt ohne die Mitwirkung des Antragstellers nicht aufzuklären ist, lässt dies doch einen Entscheidungsspielraum der Antragsgegnerin offen, ob sie die Leistung dem Antragsteller noch bis zum Ablauf des Bewilligungszeitraums, der seit dem Entziehungszeitpunkt lediglich noch zwei Monate währte, beließ oder einen früheren Entziehungszeitpunkt wählte und in welchem Umfang die Leistung entzogen werden sollte.

Der Beschwerde ist daher mit der auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung zu entsprechen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden." Rosa Luxemburg
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