BSG Ernährungsmehraufwand B 14/7b AS 64/06 R

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Günter
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BSG Ernährungsmehraufwand B 14/7b AS 64/06 R

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BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 27.2.2008, B 14/7b AS 64/06 R

Arbeitslosengeld II - Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung - Empfehlungen des Deutschen Vereins - kein antizipiertes Sachverständigengutachten - Einzelfallprüfung - Verfassungsmäßigkeit der Regelleistung - Abschlag bei den Unterkunftskosten für Haushaltsenergie

Leitsätze

1. Die "Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge eV aus dem Jahr 1997 sind weder als Rechtsnormen noch derzeit als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen. Sie können im Regelfall zur Konkretisierung des angemessenen Mehrbedarfs iS des § 21 Abs 5 SGB 2 herangezogen werden.

2. Maßgeblich für die Bestimmung des Mehrbedarfs sind stets die im Einzelfall medizinisch begründeten tatsächlichen Kosten für eine besondere Ernährung, die von der Regelleistung nicht gedeckt ist.

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b) Auf Grund der Feststellungen des LSG lässt sich nicht beurteilen, ob der Kläger Anspruch auf höhere Leistungen nach § 21 Abs 5 SGB II hat. Danach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwendigen Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Das Gesetz begründet damit beim medizinischen Erfordernis kostenaufwendiger Ernährung einen Rechtsanspruch des Hilfebedürftigen. Bei dem Begriff der "angemessenen Höhe" des Mehrbedarfs handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Ausfüllung in vollem Umfang der rechtlichen Überprüfung durch das Gericht unterliegt (so auch Behrend in jurisPK, SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 42; Lang/Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 21 RdNr 57). Es kann nach den Feststellungen des LSG nicht abschließend entschieden werden, ob und in welchem Umfang eine kostenaufwendige Ernährung durch die dem Kläger bescheinigten Erkrankungen indiziert ist. Die Beklagte hat allerdings einen solchen Mehrbedarf anerkannt und sich im Grundsatz rechtsfehlerfrei an den Empfehlungen des DV für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (im Folgenden: Empfehlungen) orientiert.
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Nach dem Willen des Gesetzgebers können zur Konkretisierung der Angemessenheit des Mehrbedarfs die hierzu vom DV entwickelten und an typisierbaren Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden (BT-Drucks 15/1516 S 57). Dies entspricht der generellen Anknüpfung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II an das Referenzsystem der Sozialhilfe (vgl BT-Drucks 15/1516 S 46, 56). In der Praxis und Rechtsprechung zur früheren Parallelvorschrift des § 23 Abs 4 BSHG fanden die Empfehlungen des DV allgemein Anwendung (vgl OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13. Oktober 2003 - 12 LA 385/03 - FEVS 55, 359; OVG NRW, Urteil vom 20. Juni 2000 - 22 A 285/98 - DVBl 2001, 580 = ZFSH/SGB 2001, 602; VGH Hessen, Beschluss vom 27. Juni 1991 - 9 TG 1258/91 - FEVS 42, 265 = info also 1991, 200; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII, Asylbewerberleistungsgesetz, Stand Januar 2008, § 30 SGB XII RdNr 14; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl 1997, § 23 RdNr 34; Wenzel in Fichtner, BSHG, 1999, § 23 RdNr 23). Bei der Erstellung der "Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" des DV haben Wissenschaftler aus medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Fachbereichen zusammengearbeitet, die medizinisch notwendigen Ernährungsformen bei verschiedenen Krankheiten festgestellt und die Kostenunterschiede zur "Normalernährung" ermittelt (Empfehlungen, 2. Aufl 1997, S 6). Die Pauschalbeträge für die krankheitsbedingten Mehrbedarfe wurden mit Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Ernährung auf der Basis eines Schemas der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin entwickelt (Empfehlungen aaO S 10). Die Empfehlungen wurden erstmals 1974 und 1997 in überarbeiteter Form herausgegeben.
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Bei den Empfehlungen handelt es sich nicht um Rechtsnormen. Eine solche Qualifikation ist bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Empfehlungen von einem privatrechtlichen Verein formuliert worden sind. Eine Rechtsgrundlage für ihre Erstellung und Anwendung findet sich nicht, so dass es an jedweder demokratischen Legitimation fehlt. Sie sind derzeit auch nicht als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, sondern entsprechend ihrer Bezeichnung lediglich als allgemeine Empfehlungen, die geeignet sind, als Grundlage für eine gleichmäßige und kontinuierliche Praxis und Rechtsprechung zu dienen. Zwar kann der Umstand, dass in der Gesetzesbegründung auf die Empfehlungen verwiesen wird, als Indiz für eine Bewertung als allgemeine Erfahrungssätze im Sinne eines antizipierten Sachverständigengutachtens gewertet werden (vgl LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Juni 2007 - L 2 AS 731/07; Behrend in jurisPK, SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 46; Lang/Knickrehm aaO § 21 RdNr 52; Münder in LPK-SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 28). Auch beruhen sie auf zu verschiedenen Sachgebieten eingeholten medizinischen, ernährungswissenschaftlichen und statistischen Gutachten und genießen grundsätzlich allgemeine Anerkennung (vgl zu diesen Anforderungen an antizipierte Sachverständigengutachten BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 8).
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Es kann aber derzeit nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Empfehlungen in allen Punkten allgemeine und im wesentlichen unumstrittene aktuelle Erfahrungswerte wiedergeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Empfehlungen aus dem Jahr 1997 datieren, sich auf Gutachten aus den Jahren 1991 bis 1996 stützen und die inzwischen eingetretenen Entwicklungen bislang nicht durch eine Aktualisierung nachvollzogen wurden. Im "Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwändiger Ernährung (Krankenkostzulage) gemäß § 23 Abs 4 BSHG" des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe aus dem Jahr 2002, der von einer Arbeitsgruppe aus Ärztinnen und Ärzten aus Gesundheitsämtern in vier Bundesländern erstellt wurde, wird kritisiert, dass die Empfehlungen in einigen Punkten nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprächen und manche Erkenntnisse nicht folgerichtig umgesetzt seien. Dementsprechend finden sich in diesem Leitfaden zum Teil von den Empfehlungen abweichende Bewertungen. Das gilt auch für das "Rationalisierungsschema 2004" des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (Aktuel Ernaehr Med 2004, 245, 247 f). Angesichts des ebenfalls auf medizinischer Sachkunde beruhenden alternativen Bewertungsschemas des Begutachtungsleitfadens kann auch nicht mehr, wie etwa bei den als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden "Anhaltspunkten" für die Festsetzung des Grades der Behinderung (vgl dazu BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2, jeweils RdNr 14 sowie Knickrehm, SGb 2008, 220, 224 ff), davon ausgegangen werden, dass ein anderes, ebenso geeignetes Beurteilungssystem wie die Empfehlungen nicht vorhanden ist, zumal die neueren Bewertungssysteme in der Rechtsprechung bereits verschiedentlich Anerkennung erfahren haben (vgl etwa Schleswig-Holsteinisches LSG, FEVS 57, 412 ff; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. Januar 2008 - L 9 AS 605/07 ER).
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Die Empfehlungen können somit derzeit zwar im Regelfall noch als Orientierungshilfe dienen. Sie entbinden aber nicht von der Ermittlungspflicht im Einzelfall, sobald Besonderheiten, insbesondere von den Empfehlungen abweichende Bedarfe geltend gemacht werden. Dabei kann es zum einen auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt sein, das Erfordernis der Krankenkostzulage auch für eine Erkrankung zu bejahen, die im Katalog der Empfehlungen nicht vorgesehen ist. Es kann sich zum anderen aber auch für eine der genannten oder damit gleichzusetzenden Erkrankung im Einzelfall ein höherer oder niedrigerer Mehrbedarf als in den Empfehlungen vorgesehen ergeben. Ebenfalls nicht ausgeschlossen ist - entgegen weit verbreiteter Praxis (vgl Hinweise der BA 21.30 zu § 21 SGB II), dass Bedarfe für mehrere, eine kostenaufwendige Ernährung bedingende Erkrankungen kumulativ in Ansatz gebracht werden. Maßgeblich ist stets der Betrag, mit dem der medizinisch begründete, tatsächliche Kostenaufwand für eine Ernährung ausgeglichen werden kann, die von der Regelleistung nicht gedeckt ist (Lang/Knickrehm aaO § 21 RdNr 56, 57). Er ist im Einzelfall im Wege der Amtsermittlung durch Einholung medizinischer und/oder ernährungswissenschaftlicher Stellungnahmen oder Gutachten zu klären.


Auf die Revision des Klägers wurde das zweitinstanzliche Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Dem Kläger stehen höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung zu. Grundsätzlich sind Leistungen für Warmwasserbereitung und Strom bereits in der Regelleistung enthalten. Ein Abzug für Kosten der Haushaltsenergie ist insgesamt nur insoweit zulässig, als diese bereits in der Regelleistung enthalten sind. Dies ist in Höhe von 20,74 € monatlich der Fall; hiervon entfällt ein Anteil von 6,22 € auf die Kosten der Warmwasserbereitung.

Ob dem Kläger auch höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zustehen, weil er einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung geltend machen kann, konnte der Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht entscheiden. Das LSG hat keine Feststellungen zu der Frage getroffen, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe die dem Kläger von seiner Hausärztin bescheinigten Erkrankungen einen höheren Aufwand bei der Ernährung zur Folge haben. Der Beklagte konnte die Höhe des Mehrbedarfs wegen der Erforderlichkeit von "Vollkost-Ernährung" nicht allein deshalb auf monatlich 25,56 € begrenzen, weil dieser Betrag in den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Vorsorge für "Vollkost-Ernährung" aufgeführt wird. Die Empfehlungen enthalten generelle Leitlinien für die Verwaltungspraxis, die den Grundsicherungsträger dann nicht von der Notwendigkeit entbinden, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn der Hilfebedürftige einen höheren Bedarf (etwa wegen des Vorliegens mehrerer Erkrankungen) geltend macht.

Die Angriffe des Klägers gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Regelleistung sind ohne Erfolg geblieben.

SG Konstanz - S 9 AS 1228/05 -
LSG Baden-Württemberg - L 12 AS 1706/06 - - B 14/7b AS 64/06 R -
Warnhinweis: Einige meiner Beiträge können Spuren von Ironie enthalten.

Ich könnte freundlich, aber wozu? :6:
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