L 8 AS 815/09 B ER - aufschiebende Wirkung, Aussetzung der V

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Emmaly
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L 8 AS 815/09 B ER - aufschiebende Wirkung, Aussetzung der V

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Beitrag von Emmaly »

Bayerisches Landessozialgericht

Beschluss vom 23.12.2009 (nicht rechtskräftig)



Sozialgericht München S 32 AS 2494/09 ER

Bayerisches Landessozialgericht L 8 AS 815/09 B ER



I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 12. November 2009 wird zurückgewiesen. II. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.


Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Beschwerdeverfahren darüber, ob das SG zu Recht die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Absenkungsentscheidungen der Antragsgegnerin vom 22.09. 2009 und vom 12.10.2009 sowie die Aufhebung deren Vollziehung angeordnet hat. Mit diesen Regelungen nahm die Antragsgegnerin die Absenkung des Arbeitslosengeldes II in der Zeit von Oktober 2009 bis Januar 2010 um 60 % der Regelleistung beziehungsweise um 40 % der Regelleistung im Januar 2010 vor.

Die Antragstellerin bezieht seit Oktober 2005 von der Antragsgegnerin Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Aufwendungen für die Unterkunft entstehen der Antragstellerin nicht). Die Antragstellerin kam keinerlei Meldeaufforderungen der Antragsgegnerin nach. Wegen der weiteren Einzelheiten zu den Absenkungsbescheiden wird auf die Darstellung im Sachverhalt des angegriffenen Beschlusses verwiesen.

Mit Beschluss 12. November 2009 hat das SG die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Absenkungsentscheidungen der Antragsgegnerin vom 22.09. 2009 und vom 12.10.2009 sowie die Aufhebung deren Vollziehung angeordnet. Das SG sah wegen des Sofortvollzugs nach § 39 Nr. 1 SGB II den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG als statthaften Rechtsbehelf an. In diesen Fällen sei die Grundlage der gerichtlichen Entscheidung eine Abwägung der Interessen, insbesondere des öffentlichen Interesses am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts mit dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung. Würden bei summarischer Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheids bestehen und sei daher von erheblichen Erfolgsaussichten des Antragstellers im Hauptsacheverfahren auszugehen, überwiege regelmäßig das Aussetzungsinteresse, denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts könne schlechthin kein öffentliches Interesse bestehen. Von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Vollziehung sei hingegen auszugehen, wenn der Hauptsacherechtsbehelf keine Aussicht auf Erfolg habe, weil der Verwaltungsakt rechtmäßig und seine Vollziehung eilbedürftig sei. Es würden ernstliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Absenkungsbescheide vom 22.09.2009 und vom 12.10.2009 bestehen. Rechtmäßig sei nur der Absenkungsbescheid, der die vom Gesetz vorgeordnete Absenkung des Arbeitslosengeldes II feststelle. Damit sei die Feststellung einer Absenkung in Höhe von 10 % der Regelleistung rechtswidrig, wenn tatsächlich eine wiederholte Meldepflichtverletzung im Sinn von § 31 Abs. 2 S. 3 SGB II vorliege. Dem Meldepflichtverstoß am 22.06.2009 seien innerhalb der Jahresfrist zumindest aus Sicht der Antragsgegnerin fünf Meldepflichtverstöße voraus gegangen. Bereits vor diesem Hintergrund sei weder der zunächst mit Bescheid vom 22.09.2009 festgestellte Absenkungsbetrag in Höhe von 30 % der Regelleistung noch der mit Änderungsbescheid vom 10.11.2009 festgestellte Absenkungsbetrag von 10 % der Regelleistung nach dem Gesetz nachvollziehbar. Entsprechendes gelte hinsichtlich des zunächst mit Bescheid vom 12.10.2009 festgestellte Absenkungsbetrages von 30 % der Regelleistung, geändert durch Bescheid vom 10.11.2009 auf 10 % der Regelleistung, nachdem dem Meldepflichtverstoß am 13.08.2009 aus Sicht der Antragsgegnerin bereits sechs Meldepflichtverstöße vorausgegangen seien bzw. hinsichtlich des zweiten Bescheides vom 12.10.2009, der eine Absenkung in Höhe von 30 % der Regelleistung feststellt, obgleich der Meldepflichtverstoß am 26.08.2009 aus Sicht der Antragsgegnerin der achte Verstoß im laufenden Jahr gewesen sein müsste.

Bedenken bestehen nach Ansicht des SG weiterhin, weil sowohl die Absenkungsentscheidung vom 22.09.2009 (im Hinblick auf den Absenkungszeitraum Oktober 2009 zusammen mit den Absenkungsentscheidungen vom 14.07.2009 in Höhe von 2 x 20 %) als auch die beiden Absenkungsentscheidungen vom 12.10.2009 zusammen mit anderen Absenkungsentscheidungen für den gleichen Absenkungszeitraum mehr als 30 % der Regelleistung betragen und keinerlei Ausführungen zu den für diesen Fall vom Gesetz vorgesehenen Sachleistungen enthalten würden.

Nach § 31 Abs 3 Satz 6 SGB II könne die Antragsgegnerin bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 vom Hundert der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Dem Wort "kann" sei zu entnehmen, dass die Bewilligung dieser Leistungen bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen (hier: Minderung des Alg II um mehr als 30 vom Hundert der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung) im pflichtgemäßen Ermessen stehe (SGB I). Dabei könne für den vorliegenden Fall dahin stehen, ob ermessensfehlerfrei lediglich eine solche Entscheidung ist, die Sachleistungen bewilligt (so Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.12.2008 - L 10 B 2154/08 AS ER Rn. 10 ff.) oder auch eine solche, die sich überhaupt mit der Möglichkeit der Bewilligung von Sachleistungen auseinandersetzt bzw. auf deren mögliche Bewilligung hinweist. Denn im Rahmen der streitgegenständlichen Entscheidungen sei die vom Gesetzgeber vorgesehene und für eine verfassungsgemäße Absenkung der Regelleistung, wie sie mit 90 % der Regelleistung im vorliegenden Fall im Raum stehe (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg a. a. O.), abzuwägende Bewilligung von Sachleistungen vollständig unberücksichtigt geblieben. Insoweit könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass dies durch das Angebot der Antragsgegnerin vom 29.10.2009, der Antragstellerin auf Antrag Sachleistungen zu gewähren, geheilt werden könne.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Der Beschluss des SG erging zu Recht.

Das SG hat als richtigen Rechtsbehelf zu Recht § 86b Abs. 1 Nr.2 SGG angenommen. Danach kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Das Gesetz selbst nennt aber keinen Maßstab. Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur glaubt daher, dass in den Fällen des § 86 Abs. 2 Nr. 2-4 SGG dem Gesetz ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Suspensiveffektes zu entnehmen sei, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung zunächst einmal angeordnet habe (LSG RP 30.05. 05, L 5 ER 17/05 KA, Breith 05, 895 mit Anm. Dahm MedR 05, 616; für § 80 Abs.2 VwGO vgl. BVerwGE 123, 241, 244 und Meyer-Ladewig, 9. Auflage 2008 Rn 12c). Davon abzuweichen bestehe nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung müsse daher eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben (SG Dresden 15.07.02., S 11 KA 594/02 ER). Nach anderen Meinungen in Rechtsprechung und Schrifttum könnten die Kriterien des § 86a Abs. 3 S 2 entsprechend herangezogen werden (z.B. LSG BW 20.10.03, L 13 AL 3445/03 ER-B; Binder in Hk-SGG § 86b Rn 17; für § 80 Abs. 4 S 3 VwGO: BVerwG NVwZ-RR 02, 153).

Wie der erkennende Senat bereits in seinem Beschluss vom 14.05.2009 (Az.: L 8 AS 215/09 B ER) ausgeführt hat, unterstellt das Gesetz - wie § 86 b Abs. 1 S. 1 SGG zeigt - den Sofortvollzug keineswegs als stets geboten, es verlagert lediglich die erforderliche konkrete Interessenbewertung in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und macht dies von einem Antrag des Antragstellers abhängig (LSG Sachsen-Anhalt vom 12.01.2009, L 5 B 94/08 AS ER juris Rn 25 m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Geboten ist daher auch in Anfechtungssachen eine im jeweiligen Einzelfall effektiven Rechtsschutz gewährleistende Abwägung im Rahmen einer offenen Eilentscheidung unter Beachtung, insbesondere richtiger Gewichtung, der aus der verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung des Eilverfahrens abgeleiteten Abwägungsbelange (BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05; BVerfG vom 06.02.2007, 1 BvR 3101/06). Die Qualität der Interessenabwägung kann nicht davon abhängen, ob die Verwaltung aufgrund einer Abwägung der Interessen im konkreten Einzelfall oder ob - wie hier - der Gesetzgeber aufgrund genereller Bewertung der Interessenlage für einen bestimmten Sachbereich den Suspensionseffekt ausgeschlossen hat (zum Ganzen Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, zweite Auflage, Rn 188 f). Das vom Gesetzgeber in § 39 SGB II, § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat dementsprechend für das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor allem die Bedeutung, dass die Antragsgegnerin von der ihr nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen (LSG Sachsen-Anhalt, aaO).

Maßgeblich sind demnach unter anderem, wie zutreffend und umfangreich vom SG dargestellt, die Erfolgsaussichten der Rechtslage im Hauptsacheverfahren. Insoweit liegt für den Antragsteller eine günstige Prognose vor. Neben den Zweifeln an der Rechtmäßigkeitsabsenkungsentscheidung selbst, die von der Beklagten mit den reinen praktischen Erwägungen, gestützt auf die Dienstanweisung der Bundesagentur, nicht beiseite geräumt sind, bestehen die Zweifel insbesondere auch im Fehlen der Abwägung hinsichtlich eines Angebots auf Sachleistungen. Dies bezogen auf eine unmittelbare Verknüpfung mit der im Streit stehenden Verwaltungsentscheidung, welche gemäß § 31 Abs. 3 S. 6 SGB II zwingend vorgeschrieben ist (zeitgleich, vgl. Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 09.09.2009, Az.: L 7 B 211/09 AS ER). Ein späteres Angebot der Antragsgegnerin vom 29.10.2009, der Antragstellerin auf Antrag Sachleistungen zu gewähren, kann dies nicht ersetzen.

Zweifel an den gesamten Absenkungsvorgängen bestehen beispielsweise, weil zwei Absenkungsbescheide vom 12. Oktober 2009 datieren, die für denselben Zeitraum eine Absenkung des Arbeitslosengeldes II in Höhe von 108 Euro vornehmen, jedoch unterschiedliche Meldetermine, nämlich vom 13. August und vom 26. August benennen, ohne aufeinander Bezug zu nehmen und klarzumachen, welche Absenkung nun tatsächlich erfolgt. Hinzu kommen noch die nachträgliche Korrektur des Sanktionsbescheides vom 22. September 2009 mit Bescheid vom 10. November 2009, die die Bemessungsgrößen des zeitlich nachfolgenden Bescheides vom 12. Oktober 2009 Im Nachhinein verändert. Insoweit ist für den Empfänger nicht mehr ersichtlich, welcher Minderung er nun tatsächlich ausgesetzt ist (vgl. Beschluss des OVG Bremen vom 10.10.2008, 2 B 458/08, NJW 09, 616, Klerks, Entscheidungen zu Sanktionen nach § 31 SGB II, Info also 09, 271). Umso weniger kann dann auch noch das Ausmaß der notwendig zu erbringenden Sachleistung bestimmt werden.

Schließlich erfordert eine richtiger Gewichtung der aus der verfassungsrechtlich gebotenen Ausgestaltung des Eilverfahrens abgeleiteten Abwägungsbelangen (BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05; BVerfG vom 06.02.2007, 1 BvR 3101/06) eine eingehende Auseinandersetzung mit der Gewährleistung des Existenzminimums. Nach § 31 Abs 5 SGB II in der bis zum 31. 12. 2006 geltenden Fassung "sollten" wegen des Wegfalls von Barleistungen Sachleistungen und geldwerte Leistungen erbracht werden. Jetzt "kann" der Alg II-Leistungsträger dies tun, sein Spielraum ist damit deutlich größer. Allerdings binden ihn auch hier die Grundrechte, insbesondere Art 1 und 2 GG (Winkler in Gagel, Arbeitsförderung, Rn. 177 zu § 31). Insoweit überschneidet sich diese Frage zum Teil mit einem Angebot auf Sachleistungen. Immerhin nahm die Antragsgegnerin in den in der Hauptsache angefochtenen Regelungen eine Absenkung des Arbeitslosengeldes II in der Zeit von Oktober 2009 bis Januar 2010 um 60 % der Regelleistung beziehungsweise um 40 % der Regelleistung im Januar 2010 vor; im November sogar auf 90% kumuliert. Zwar ist die Unterkunft gewährleistet und die Absenkung auf wenige Monate befristet. Dennoch wird hier ein gravierender Einschnitt in das wirtschaftliche Leistungsvermögen der Antragstellerin vorgenommen, dessen Sofortvollzug nur bei einer mit keinen Zweifeln belasteten rechtmäßigen Verwaltungsentscheidung gebilligt werden könnte.

Letztlich kann hier der Antragsgegnerin ein Zuwarten auf den Ausgang der Hauptsacheentscheidung zugemutet werden.

Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.

Der Antragstellerin sind ihre außergerichtlichen Kosten von der Antragsgegnerin zu erstatten (§ 193 SGG).
http://www.sozialgerichtsbarkeit.de/sgb ... sensitive=
LG Emmaly
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