BSG, U. v. 04.04.2017 - B 4 AS 6/16 R Nachzahlungen wg § 44 SGB X auch nach Wegfall der Hilfebedürftigkeit

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tigerlaw
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BSG, U. v. 04.04.2017 - B 4 AS 6/16 R Nachzahlungen wg § 44 SGB X auch nach Wegfall der Hilfebedürftigkeit

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Beitrag von tigerlaw »

Leitsatz

Der Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II und der Anspruch auf eine sich daraus ergebende Leistungsnachzahlung setzt keine bis zum Abschluss des Überprüfungsverfahrens durchgehend bestehende Hilfebedürftigkeit voraus.

Quelle: Hengelhaupt, jurisPR-SozR 2/2018 Anm. 1

Urteilsbesprechung ist angehängt!
Anmerkung zu: BSG 4. Senat,
Urteil vom
04.04.2017 - B 4
AS 6/16 R
Autor: Dietrich
Hengelhaupt,
Direktor SG
Erscheinungsdatum:01.02.2018
Quelle:
Normen: § 3 SGB 2, § 9 SGB 2, § 41 SGB 2, §
330 SGB 3, § 37 SGB 1, § 37 SGB 2,
§ 18 SGB 12, § 116a SGB 12, § 9
AsylbLG, § 54 SGG, § 40 SGB 2, §
77 SGB 2, § 44 SGB 10, § 40 SGG, §
22 SGB 2
Fundstelle: jurisPR-SozR 2/2018 Anm. 1
Herausgeber:
Prof. Dr. Thomas Voelzke,
Vizepräsident des BSG
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Hengelhaupt, jurisPR-SozR 2/2018
Anm. 1
Leitsatz
Der Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden
Verwaltungsakts über die Bewilligung von Arbeitslosengeld II und der Anspruch
auf eine sich daraus ergebende Leistungsnachzahlung setzt keine bis
zum Abschluss des Überprüfungsverfahrens durchgehend bestehende Hilfebedürftigkeit
voraus.
A.
Problemstellung
Sind aufgrund eines bestandskräftigen, anfänglich rechtswidrigen Ablehnungsbescheides
zu Unrecht vorenthaltene Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II auch dann noch gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1
und Abs. 4 Satz 1 SGB X zu erbringen, wenn der ehemals Leistungsberechtigte
nach Stellung des Zugunstenantrags infolge entfallener Hilfebedürftigkeit
aus dem Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschieden ist?
B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Streitig war die Nachleistung zu Unrecht nicht erbrachter Leistungen für Kosten
der Unterkunft und Heizung (KdUH) gemäß § 22 SGB II im Wege eines
Zugunstenverfahrens gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 SGB X.
Dabei bestand die Besonderheit darin, dass die Kläger während des erstinstanzlichen
Klagverfahrens infolge entfallener Hilfebedürftigkeit aus dem
Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschieden waren.
Den Klägern waren in der Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.05.2006 für ihre
gemeinsam bewohnte Wohnung KdUH i.H.v. monatlich 645 Euro (595 Euro
Kaltmiete einschließlich Nebenkosten; 50 Euro Heizkosten) entstanden. Der
Beklagte hatte jedoch mit jeweils bestandskräftig gewordenen Bewilligungsbescheiden
die Leistungen für KdUH auf den als angemessen angesehenen Teil
i.H.v. 610 Euro beschränkt. Dies war – wie im weiteren Verlauf dem Grunde
und der Höhe nach unstreitig geworden ist – mangels Durchführung eines
Kostensenkungsverfahrens überwiegend anfänglich rechtswidrig i.S.d. § 44
Abs. 1 Satz 1 SGB X.
Die am 14.05.2008 gestellten Anträge auf Zugunstenentscheidungen gemäß §
44 SGB X hatte der Beklagte abgelehnt. Auf die deswegen erhobenen Klagen
hatte das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide
und Änderung der Bewilligungsbescheide verurteilt, den Klägern –
ungeachtet des zwischenzeitlichen Ausscheidens aus dem Leistungsbezug –
den zu Unrecht nicht erbrachten Teil der Leistungen für KdUH (abzüglich der
Kosten für die zentral erfolgende Warmwasseraufbereitung) nachzuzahlen.
Die vom Landessozialgericht zugelassenen Berufungen des Beklagten waren
erfolglos geblieben (LSG Celle-Bremen, Urt. v. 29.09.2015 - L 11 AS
1380/13). Mit seiner vom BSG zugelassenen Revision hat der Beklagte eine
Verletzung des § 44 SGB X in Verbindung mit den Strukturprinzipien des SGB
II gerügt. Das Gegenwärtigkeitsprinzip bzw. der Aktualitätsgrundsatz müssten
zur Ablehnung der Überprüfungsanträge wegen entfallener Hilfebedürftigkeit
führen.
Das BSG hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen.
Rechtsgrundlage ist nach Auffassung des BSG § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II
i.d.F. durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
vom 24.12.2003 (BGBl I 2003, 2954) i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4
Satz 1 SGB X. Den Klägern seien unstreitig Sozialleistungen zu Unrecht nicht
erbracht worden, sodass die insoweit rechtswidrigen Bewilligungsbescheide
teilweise zurückzunehmen, zu ändern und die vorenthaltenen Leistungen
auch für die Vergangenheit nachzuzahlen seien.
Entgegen der Auffassung des Beklagten sei der Nachleistungsanspruch nicht
dadurch ausgeschlossen, dass die Hilfebedürftigkeit der Kläger vor Abschluss
der letzten Tatsacheninstanz entfallen sei. Eine fortbestehende Hilfebedürftigkeit
als zusätzliche Anspruchsvoraussetzung lasse sich den anzuwendenden
Verfahrensbestimmungen nicht entnehmen.
Das BSG habe bereits entschieden, dass sich aus dem Recht des SGB II
keine § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 44 SGB X verdrängenden Besonderheiten
i.S.d. § 37 Satz 1 HS. 1 SGB I ergeben, die als „Vorschriften der besonderen
Teile dieses Gesetzbuches“ i.S.d. § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X die
Nachleistung zu Unrecht nicht erbrachter Sozialleistungen beschränken würden.
Solche Besonderheiten habe zwar der für die Rechtsgebiete der Sozialhilfe
und des Asylbewerberleistungsrechts zuständige 8. Senat des BSG in
ständiger Rechtsprechung mit der Begründung angenommen, dass Leistungen
der Sozialhilfe nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienten
und deshalb für zurückliegende Zeiten nur dann zu erbringen seien, wenn sie
ihren Zweck noch erfüllen könnten, was wiederum nur der Fall sei, wenn die
Bedürftigkeit nicht temporär oder auf Dauer entfallen sei. Jedoch sei diese
Rechtsprechung auf das Recht des SGB II nicht übertragbar. Schon aus der
Ausgestaltung des § 40 SGB II folge, dass der Gesetzgeber die Leistungsberechtigten
nach dem SGB II grundsätzlich so habe stellen wollen, als hätte die
Verwaltung von vornherein richtig entschieden. Ihnen sollten diejenigen Leistungen
zukommen, die ihnen nach materiellem Recht zugestanden hätten.
Zwar seien auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II im Allgemeinen von einer aktuellen, nicht anderweitig zu beseitigenden
Hilfebedürftigkeit abhängig (§§ 3 Abs. 3 Satz 1, 9 SGB II). Anders als
etwa die Sozialhilfe nach dem SGB XII würden diese Leistungen aber stets
nur auf Antrag erbracht (§ 37 SGB II). Zudem finde eine Bedarfsdeckung nicht
nur wegen eines gegenwärtigen, sondern auch wegen eines prognostischen
zukünftigen Hilfebedarfs im Wege der Bewilligung einer Dauerleistung statt,
was in dem früher regelmäßig sechs Monate (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II i.d.F.
durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) bzw.
aktuell sogar ein Jahr (§ 41 Abs. 3 Satz 1 SGB II i.d.F. durch das Neunte Gesetz
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung
- sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht
vom 26.07.2016, BGBl I 2016, 1824) umfassenden Bewilligungszeitraum zum
Ausdruck komme. Insofern liege bereits normativ eine Einschränkung des für
das Recht der Sozialhilfe vertretenen Konzepts einer „Nothilfe“ vor. Hinzu
komme der als abschließend anzusehende Verweis des § 40 SGB II auf die
Anwendbarkeit der Vorschriften des SGB X sowie die ausdrückliche Bezugnahme
auf die gemäß § 330 SGB III für das Arbeitsförderungsrecht geltenden
Besonderheiten und nicht auf sozialhilferechtliche Grundsätze. Diese normativen
Unterschiede in den Regelungskonzeptionen des SGB II und des SGB XII
rechtfertigten die von dem Beklagten gerügte Ungleichbehandlung.
Die vorgenommene Auslegung werde bestätigt durch die Gesetzesbegründung
zur Änderung des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II durch das RBEG. Darin sei
die grundsätzliche Anwendbarkeit des § 44 SGB X auch im Regelungskontext
des SGB II herausgestellt worden. Dessen Ziel sei der Ausgleich zwischen
dem Interesse der Allgemeinheit an Rechtssicherheit und dem Interesse des
Leistungsberechtigten an materieller Gerechtigkeit für den Fall, dass eine
Verwaltungsentscheidung zum Nachteil des Leistungsberechtigten rechtswidrig
gewesen sei. Diese einleitende grundsätzliche Stellungnahme des Gesetzgebers
stärke den Restitutionsgedanken des § 44 SGB X und spreche damit
für eine uneingeschränkte Anwendung dieser Vorschrift. Zwar werde – worauf
der Beklagte seine Auffassung im Wesentlichen stütze – in der weiteren Gesetzesbegründung
der „Aktualitätsgrundsatz“ ebenfalls erwähnt, allerdings nur
als ein allgemeines Ziel der Grundsicherung und Begründung für die vorgesehene
Gesetzesänderung im Detail, nämlich die Verkürzung der Frist des § 44
Abs. 4 Satz 1 SGB X von vier Jahren auf ein Jahr im Anwendungsbereich des
SGB II. Dem Gesetzgeber dürfte zudem die Rechtsprechung zur (eingeschränkten)
Anwendbarkeit des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X im Recht der Sozialhilfe
und die sich hiervon abgrenzende Auffassung des erkennenden Senats
bekannt gewesen sein, so dass es bei entsprechendem legislatorischen Willen
nahegelegen hätte, für das Recht des SGB II eine entsprechende Einschränkung
auf Fälle fortbestehender Hilfebedürftigkeit zu regeln.
Eine Klarstellung der Rechtslage in diesem Sinne sei auch mit den Änderungen
des § 40 Abs. 1 SGB II durch das Neunte Gesetz zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden
Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nicht erfolgt. In den
Materialien hierzu finde sich zwar der ausdrückliche Hinweis auf das zu wahrende
angemessene Verhältnis zwischen dem Rechtsschutzinteresse des Betroffenen
und dem Verwaltungsaufwand der Leistungsträger. Aus dem Recht
der Fürsorgeleistungen abzuleitende Strukturprinzipien oder Grundsätze wür-
den hingegen nicht erwähnt. Stattdessen sei mit § 116a SGB XII für das Recht
der Sozialhilfe zum 01.04.2011 eine § 40 Abs. 1 Satz 2 n.F. SGB II entsprechende
Regelung mit gleicher Begründung geschaffen und zum 01.01.2017
gleichlautend wie § 40 Abs. 1 Satz 2 n.F. SGB II mit wiederum gleicher Begründung
geändert worden, was insgesamt durchaus als Angleichung des
Rechts der Sozialhilfe an das Recht des SGB II gedeutet werden könne.
C.
Kontext der Entscheidung
Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum BSHG hatte aus den Strukturprinzipien
der Sozialhilfe, insbesondere dem Kenntnis- und dem Bedarfsdeckungsgrundsatz,
abgeleitet, dass Nachleistungen für vergangene Zeiträume
wegen Zweckverfehlung grundsätzlich ausgeschlossen seien, auch dann,
wenn Leistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Sozialhilfe sei keine
Entschädigung für erlittene Hilfebedürftigkeit. Eine Ausnahme sei zwar aus
Billigkeitsgründen zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes dann zuzulassen,
wenn die Leistung erst gerichtlich habe erstritten werden müssen. Die Anwendung
von § 44 SGB X scheide jedoch aus (vgl. nur: BVerwG, Urt. v.
03.04.1957 - V C 94.56, V C 152.54 Rn. 23 - BVerwGE 5, 27; BVerwG, Urt. v.
14.09.1972 - V C 62.72 Rn. 14 - BVerwGE 40, 343; BVerwG, Urt. v.
15.12.1983 - 5 C 65/82 Rn. 10 f. - BVerwGE 68, 285; BVerwG, Urt. v.
13.11.2003 - 5 C 26/02 Rn. 7 ff.).
Diese Rechtsprechung ist vor dem Hintergrund des mit Inkrafttreten des SGB
XII vollzogenen Systemwechsels (Aufgabe der Zweiteilung in laufende und
einmalige Leistungen zugunsten der Einführung von Gesamtpauschalen) zum
Teil geändert worden. Der 8. Senat des BSG hat inzwischen mehrfach ausdrücklich
entschieden, dass eine Korrektur bestandskräftiger, anfänglich
rechtswidriger Ablehnungsbescheide über § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz
1 SGB X grundsätzlich möglich sei, weil ein über § 37 SGB I generell vorgehendes
normatives Strukturprinzip „keine Leistungen für die Vergangenheit;
Bedarfsdeckungsgrundsatz; Aktualitätsprinzip“ nicht bestehe (vgl. zum BSHG
(Hilfe in besonderen Lebenslagen): BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R
Rn. 11 - BSGE 104, 213; vgl. zum GSiG bzw. zum Vierten Kapitel des SGB
XII: BSG, Urt. v. 16.10.2007 - B 8/9b SO 8/06 R Rn. 18 ff. - SozR 4-1300 § 44
Nr. 11; BSG, Urt. v. 26.08.2008 - B 8 SO 26/07 Rn. 19 - SozR 4-1300 § 44
Nr. 15; BSG, Urt. v. 17.12.2015 - B 8 SO 24/14 R Rn. 16 - SozR 4-3500 §
116a Nr. 2; vgl. zum AsylbLG: BSG, Urt. v. 17.06.2008 - B 8 AY 5/07 R Rn. 12
ff. - SozR 4-300 § 44 Nr. 14). Für den Nachleistungsanspruch gemäß § 44
Abs. 4 Satz 1 SGB X genüge allerdings nicht allein, dass Sozialleistungen zu
Unrecht nicht erbracht worden seien. Die Worte „nach den Vorschriften der
besonderen Teile dieses Gesetzbuchs“ ließen vielmehr erkennen, dass den
Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts Rechnung getragen werden
müsse. Insoweit sei das Gegenwärtigkeitsprinzip zu berücksichtigen, wonach
die Sozialhilfe der Behebung einer aktuellen Notlage diene und nicht als
nachträgliche Geldleistung ausgestaltet sei, weshalb sie für zurückliegende
Zeiten nur dann zu erbringen sei, wenn sie ihren Zweck noch erfüllen könne. §
44 Abs. 4 Satz 1 SGB X setze im sozialhilferechtlichen Kontext folglich voraus,
dass die Bedürftigkeit fortbestehe, also nicht temporär oder auf Dauer entfallen
sei. Maßgebender Zeitpunkt sei die letzte Tatsacheninstanz (vgl. BSG, Urt.
v. 26.08.2008 - B 8 SO 26/07 Rn. 23 - SozR 4-1300 § 44 Nr. 15; BSG, Urt. v.
29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R Rn. 12 ff. - BSGE 104, 213; BSG, Urt. v.
17.12.2015 - B 8 SO 24/14 R Rn. 16 - SozR 4-3500 § 116a Nr. 2).
Für das Recht des SGB II hat dagegen das BSG dem Restitutionsgedanken
Vorrang eingeräumt und eine zusätzliche Anspruchsvoraussetzung in Form
fortbestehender Hilfebedürftigkeit verneint (vgl. BSG, Urt. v. 01.06.2010 - B 4
AS 78/09 R Rn. 18 f. m.w.N. - BSGE 106, 155; vgl. ferner BSG, Urt. v.
19.03.2008 - B 11b AS 23/06 R Rn. 20 - SozR 4-4200 § 24 Nr. 3; BSG, Urt. v.
07.05.2009 - B 14 AS 3/09 B). Hieran hält die besprochene Entscheidung mit
gleicher Begründung fest.
Dass der Harmonisierung des SGB II und des SGB XII vor dem Hintergrund
der unterschiedlichen Entstehungshintergründe, der typisierten Unterschiedlichkeit
der Anspruchsberechtigten sowie der vom Gesetzgeber im Wesentlichen
beibehaltenen konzeptionellen Unterschiede Grenzen gesetzt sein können
und dass – anders als Alhi und Sozialhilfe bis zum 31.12.2004 – Grundsicherung
für Arbeitsuchende und Sozialhilfe ab dem 01.01.2005 nicht in einem
Vorrang-Nachrang-Verhältnis, sondern in einem Ausschließlichkeitsverhältnis
gleichrangig und selbstständig nebeneinander stehen, das SGB XII also nicht
als „unterstes Netz“ und Referenzsystem für Leistungen nach dem SGB II
fungiert, sondern SGB II und SGB XII als geschlossene Systeme zu qualifizieren
sind und jeweils für sich innerhalb der sozialen Sicherung das „unterste
Netz“ bilden, hat das BSG im Übrigen in unterschiedlichen Zusammenhängen
mehrfach betont (vgl. zum SGB II: BSG, Urt. v. 07.11.2006 - B 7b AS 2/05 R
Rn. 16 - BSGE 97, 203; BSG, Urt. v. 16.05.2007 - B 11b AS 37/06 R Rn. 34 -
BSGE 98, 243; BSG, Urt. v. 06.09.2007 - B 14/7b AS 16/07 R Rn. 15 - BSGE
99, 88; BSG, Urt. v. 12.12.2013 - B 14 AS 90/12 R Rn. 41 ff. - SozR 4-4200 §
12 Nr. 22; BSG, Urt. v. 25.06.2015 - B 14 AS 17/14 R - SozR 4-4200 § 11
Nr. 73; vgl. zum SGB XII: BSG, Urt. v. 19.05.2009 - B 8 SO 4/08 R - BSGE
103, 178; BSG, Urt. v. 23.03.2010 - B 8 SO 17/09 R Rn. 37 ff. - BSGE 106,
62; BSG, Urt. v. 09.06.2011 - B 8 SO 11/10 R Rn. 21; BSG, Urt. v. 09.06.2011
- B 8 SO 20/09 R Rn. 24 - BSGE 108, 241; BSG, Urt. v. 25.08.2011 - B 8 SO
19/10 R Rn. 18).
Zeitlich nach den zitierten Entscheidungen des 8. Senats hat der Gesetzgeber
in das SGB XII bzw. in das AsylbLG die mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II weitgehend
identischen Vorschriften des § 116a SGB XII (vgl. Art. 3 Nr. 35 des
RBEG bzw. Art. 3 Abs. 8 Nr. 3 des Neunten Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden
Aussetzung der Insolvenzantragspflicht) bzw. des § 9 Abs. 4
Satz 2 AsylbLG (vgl. Art. 1 Nr. 7 Buchst. b des Gesetzes zur Änderung des
AsylbLG und des SGG vom 10.12.2014, BGBl I 2014, 2187) eingefügt und
dies jeweils wortgleich begründet (vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 129 zu Art. 3
Nr. 35; BT-Drs. 18/8909, S. 37 zu B. Nr. 3 neu; BT-Drs. 18/2592, S. 28 zu Art.
1 Nr. 7 Buchst. b). Ob vor diesem Hintergrund die Rechtsprechung des 8. Senats
aufrechtzuerhalten ist, wird kontrovers diskutiert (für die Aufgabe: Coseriu
in: jurisPK-SGB XII, Stand: 27.07.2017, § 18 Rn. 48,; für die Beibehaltung:
Greiser/Eicher in: jurisPK-SGB XII, Stand: 24.01.2017, § 116a Rn. 24,; Baumeister
in: jurisPK-SGB X, Stand: 01.12.2017, § 44 Rn. 31; Schlette in:
Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: VIII/2017, § 116a Rn. 7; Merten in: Hauck/Noftz,
SGB X, Stand: VII/2017, § 44 Rn. 115 ff.; vgl. ferner Hochheim, NZS 2009, 24;
Hochheim, NZS 2010, 302; Pattar, NZS 2010, 7; Petersen, ZFSH/SGB 2011,
19; Bogun, info also 2010, 108).
D.
Auswirkungen für die Praxis
Mit der besprochenen Entscheidung bekräftigt der 4. Senat des BSG seinen
Standpunkt, dass es im Anwendungsbereich des SGB II der Rücknahme und
Änderung bestandskräftiger, anfänglich rechtswidriger Ablehnungsbescheide
und der Nachleistung zu Unrecht nicht erbrachter Leistungen im Wege des
Zugunstenverfahrens gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 SGB X
nicht entgegensteht, wenn die Leistungsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit
nicht durchgehend bis zur letzten Tatsacheninstanz vorgelegen hat. Dem ist
aus den überzeugenden Entscheidungsgründen zuzustimmen (ebenso Aubel
in: jurisPK-SGB II, Stand: 13.11.2017, § 44 Rn. 9 f.). Freilich reduzieren sich
die praktischen Auswirkungen nach inzwischen geltendem Recht dadurch,
dass § 40 Abs. 1 Satz 2 (Nr. 2) SGB II in der ab dem 01.04.2011 geltenden
Fassung durch das RBEG die Nachleistungsbegrenzung des § 44 Abs. 4 Satz
1 SGB X von vier Jahren auf ein Jahr verkürzt hat sowie dadurch, dass § 40
Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in der ab 01.04.2011 geltenden Fassung durch das
Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch -
Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht
eine weitere Einschränkung insoweit vornimmt, als rechtswidrige
nicht begünstigende Verwaltungsakte (insbesondere solche, die die
Aufhebung, die Erstattung oder den Ersatz von Leistungen verfügen; vgl.
dazu BT-Drs. 18/8909, S. 33) nicht später als vier Jahre nach Ablauf des Jahres
der Bekanntgabe zurückzunehmen sind, wobei die Antragstellung innerhalb
dieses Zeitraums ausreicht.
Im Anwendungsbereich des SGB XII bzw. des AsylbLG stellt sich die Rechtslage
hingegen nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG bzw. des 8. Senats
des BSG folgendermaßen dar:
Wird die rechtswidrige Leistungsablehnung vor Eintritt der Bestandskraft im
originären Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahren erfolgreich angefochten,
so ist die erstrittene Nachleistung unabhängig vom Vorliegen aktueller Hilfebedürftigkeit
zu erbringen (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.04.1957 - V C 94.56, V C
152.54 Rn. 24 - BVerwGE 5, 27; BVerwG, Urt. v. 14.09.1972 - V C 62.72 Rz
14 - BVerwGE 40, 343; BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R Rn. 14 -
BSGE 104, 213). Wird die rechtswidrige Leistungsablehnung erst nach Eintritt
der Bestandskraft im wiederaufgreifenden Verwaltungs-, Rechtsbehelfs- oder
Rechtsmittelverfahren gemäß § 44 SGB X erfolgreich angefochten, so ist die
erstrittene Nachleistung zu erbringen, sofern die Hilfebedürftigkeit im Zeitpunkt
der letzten Tatsacheninstanz noch fortbesteht (vgl. BSG, Urt. v. 26.08.2008 -
B 8 SO 26/07 Rn. 23 - SozR 4-1300 § 44 Nr. 15; BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8
SO 16/08 R Rn. 12 ff. - BSGE 104, 213; BSG, Urt. v. 17.12.2015 - B 8 SO
24/14 R Rn. 16 - SozR 4-3500 § 116a Nr. 2). Entfällt die Hilfebedürftigkeit am
Tag nach der letzten Tatsacheninstanz, so ist dies unschädlich und hinzunehmen
(vgl. BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R Rn. 21 - BSGE 104,
213). Ist die Hilfebedürftigkeit allerdings schon vor dem Tag der letzten Tatsacheninstanz
temporär oder auf Dauer entfallen, so tritt der Vorrang des effektiven
Rechtsschutzes gegenüber den Besonderheiten des Sozialhilferechts zu-
rück und es findet keine Nachleistung mehr statt (vgl. BSG, Urt. v. 26.08.2008
- B 8 SO 26/07 Rn. 23 - SozR 4-1300 § 44 Nr. 15; BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B
8 SO 16/08 R Rn. 12 ff. - BSGE 104, 213; BSG, Urt. v. 17.12.2015 - B 8 SO
24/14 R Rn. 16 - SozR 4-3500 § 116a Nr. 2).
Die Ungleichbehandlung der Leistungsberechtigten nach dem SGB II einerseits
und dem SGB XII bzw. dem AsylbLG andererseits beschränkt sich mithin
auf die letztgenannte Fallkonstellation. Ob dies vor dem Hintergrund der
zwischenzeitlichen Einfügung des § 116a SGB XII bzw. des § 9 Abs. 4 Satz 2
AsylbLG weiterhin mit normativ divergenten Regelungskonzeptionen der verschiedenen
Existenzsicherungssysteme überzeugend gerechtfertigt werden
kann, erscheint fraglich (allgemein kritisch zur höchstrichterlichen Ausbildung
teilrechtgebietsspezifischer Besonderheiten auch Groth, jurisPR-SozR
22/2017 Anm. 1). Jedenfalls von den in der besprochenen Entscheidung genannten
Unterschieden bleibt letztlich allein derjenige zwischen dem Antragserfordernis
(§ 37 SGB II) und dem Kenntnisgrundsatz (§ 18 Abs. 1 SGB XII),
und selbst dieser besteht nur im Verhältnis zur Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem Dritten Kapitel des SGB XII, nicht zur Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, welche ebenfalls
antragsgebunden ist (vgl. § 18 Abs. 1 i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII;
vgl. dazu auch BSG, Urt. v. 16.10.2007 - B 8/9b SO 8/06 R Rn. 20 - SozR 4-
1300 § 44 Nr. 11).
Im Übrigen werden aber Existenzsicherungsleistungen nach dem SGB XII –
ebenso wie diejenigen nach dem SGB II – nicht auf die Deckung des gegenwärtig
Notwendigen beschränkt, sondern unter Zugrundelegung eines prognostischen
Bedarfs für einen längeren Zeitraum in Form von Pauschalen bewilligt
und erbracht, mit denen die Leistungsempfänger nicht nur aktuell, sondern
auch vergangenheitsbezogen und zukunftsorientiert haushalten müssen
(vgl. BSG, Urt. v. 16.10.2007 - B 8/9b SO 8/06 R Rn. 18 ff. . SozR 4-1300 § 44
Nr. 11; BSG, Urt. v. 26.08.2008 - B 8 SO 26/07 Rn. 14 - SozR 4-1300 § 44
Nr. 15). Schließlich enthalten § 116a SGB XII bzw. § 9 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG
nunmehr ebenfalls Anwendbarkeitserklärungen in Bezug auf § 44 Abs. 4 Satz
1 SGB X. Zwar ist den Gesetzesbegründungen (vgl. BT-Drs. 17/3404, S. 129
zu Art. 3 Nr. 35; BT-Drs. 18/8909, S. 37 zu B. Nr. 3 neu; BT-Drs. 18/2592, S.
28 zu Art. 1 Nr. 7 Buchst. b) keine gesetzgeberische Positionierung zu der hier
interessierenden Frage nach der Existenz der zusätzlichen Anspruchsvoraussetzung
„fortbestehende Hilfebedürftigkeit“ als § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X modifizierende
Besonderheit i.S.d. § 37 Satz 1 HS. 1 SGB I zu entnehmen. Gerade
in diesem Schweigen kann jedoch durchaus ein Hinweis darauf gesehen
werden, dass die Nachleistungsregelungen des § 116a SGB XII bzw. des § 9
Abs. 4 Satz 2 AsylbLG, soweit sie § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X nicht verdrängen,
ohne weitere Einschränkungen zur Anwendung kommen sollen. Dies lässt
sich als Typisierung dahin verstehen, dass Nachleistungen in dem durch § 44
Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 116a SGB XII bzw. § 9 Abs. 4 Satz 2 AsylbLG
nunmehr noch zugelassenen Umfang den mit der vorenthaltenen Leistung
verfolgten Zweck der Bedarfsdeckung weiterhin zu erfüllen vermögen (so auch
Coseriu in: jurisPK-SGB XII, Stand: 27.07.2017, § 18 Rn. 48).
All dies spricht dafür, die Rechtsprechung zu vereinheitlichen und auch die
Leistungsberechtigten nach dem SGB XII und dem AsylbLG – in den durch §
44 Abs. 4 Satz 1 SGB X i.V.m. § 116a SGB XII bzw. § 9 Abs. 4 Satz 2
AsylbLG gezogenen Grenzen – so zu stellen, als hätte die Verwaltung von
vornherein richtig entschieden. Dies vermeidet zugleich den unbefriedigenden
Zustand, dass die Restitution bestandskräftiger, anfänglich rechtswidriger Ablehnungsbescheide
gemäß § 44 SGB X für den Personenkreis der Nichterwerbsfähigen
von Zufälligkeiten, nämlich davon abhängig ist, wie sich deren
leistungsrechtliche Situation in einem der Länge nach undefinierten und ihrem
Einfluss weitgehend entzogenen Zeitraum (von der ursprünglichen Notlage bis
zur letzten Tatsachenentscheidung) entwickelt.
E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Das Klagebegehren kann zulässigerweise auf Leistungen für KdUH gemäß §
22 SGB II beschränkt werden (Besprechungsurteil Rn. 12).
Richtige Klageart bei Geltendmachung von Nachleistungsansprüchen gemäß
§ 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 SGB X ist die kombinierte Anfechtungs-,
Verpflichtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4
SGG (vgl. auch BSG, Urt. v. 29.09.2009 - B 8 SO 16/08 R Rn. 9 m.w.N. -
BSGE 104, 213; BSG, Urt. v. 13.02.2014 - B 4 AS 22/13 R Rn. 11 m.w.N. -
BSGE 115, 126; BSG, Urt. v. 12.10.2016 - B 4 AS 37/15 R Rn. 11 - SozR 4-
4200 § 40 Nr. 10 vorgesehen). Mit der Anfechtungsklage wird die Aufhebung
des die Rücknahme ablehnenden Verwaltungsakts begehrt. Die Verpflichtungsklage
ist auf die Erteilung des Verwaltungsakts gerichtet, durch den die
begehrte Änderung des bestandskräftigen Verwaltungsakts bewirkt werden
soll. Mit der Leistungsklage werden schließlich die höheren Leistungen begehrt
(Rn. 12).
Die Verkürzung des Nachleistungszeitraums von vier Jahren auf ein Jahr
durch § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.d.F. durch das RBEG (BGBl I 2011, 453) ist
gemäß § 77 Abs. 13 SGB II bei vor dem 01.04.2011 gestellten Überprüfungsanträgen
nicht anwendbar (Rn. 14).
§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfordert anfängliche, d.h. nach der Sach- und
Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe bestehende Rechtswidrigkeit des
nicht begünstigenden Verwaltungsakts (Rn. 15 m.w.N.).
Heizkosten sind um die im Regelsatz enthaltenen Beträge für zentral erfolgende
Warmwasseraufbereitung zu vermindern (Rn. 15 m.w.N.).
Eine zur Beschränkung des Rücknahmezeitraums gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2
Nr. 1 SGG a.F. i.V.m. § 330 Abs. 1 Alt. 2 SGB III führende abweichende ständige
Rechtsprechung bzgl. der Auslegung des § 22 SGB II hat schon mangels
bundeseinheitlicher Verwaltungspraxis nicht bestanden (Rn. 16).
Ich darf sogar beraten - bei Bedarf bitte PN!
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